Datengetriebene Hochschuldidaktik: Praxisorientiertes Lehren und Lernen in der Rechtswissenschaft

UHH/Dingler
In Deutschland werden immer weniger Volljurist:innen ausgebildet: Gegenüber dem Jahr 2000 wurden 2018 deutschlandweit 40% weniger Einstellungen von Referendar:innen verzeichnet. Entsprechend erlangten im Jahr 2001 noch 10.000 Jurist:innen die Befähigung zum Richter:innenamt, im Jahr 2017 waren es dagegen nur noch 7.500 [1]. Während also einerseits das Angebot an qualifizierten Jurist:innen sinkt, steigt gleichzeitig die Nachfrage: Auf Bundesebene ist laut einer Studie des Deutschen Richterbunds aus 2019 damit zu rechnen, dass 2031 bis zu 41% der Richter:innen und Staatsanwält:innen pensioniert werden [2]. In der Folge wird sowohl durch Berufsverbände der staatlichen Justiz, wie dem Deutschen Richterbund [3], als auch durch Berufsverbände der privatwirtschaftlichen Anwält:innenschaft wie der BRAK [4] bereits seit mehreren Jahren einen dramatischen Nachwuchsmangel beklagt.
Während immer weniger Jurist:innen in das Referendariat eintreten, nahm die Zahl der Jura-Studierenden zwischen 2007 und 2016 beständig zu [5]. Durch diese Gegenüberstellung wird deutlich: Die Nachwuchslücke der deutschen Jurist:innenschaft ist maßgeblich im universitären Teil der Ausbildung begründet. Passend hierzu stellte eine Umfrage des Deutschen Anwaltsvereins (DAV) mit knapp 1.000 Teilnehmenden im Jahr 2020 eine wachsende Unzufriedenheit unter Studierenden und Referendaren fest [6].
Die Probleme des universitären Studiums der Rechtswissenschaft sind vielfältig: Etwa 70% der Studierenden nehmen in Vorbereitung auf die angestrebte Abschlussprüfung, das erste Juristische Staatsexamen, ein nichtuniversitäres, zahlungspflichtiges Repetitorium in Anspruch [7]. Das Studium der Rechtswissenschaft scheint in den Augen der meisten Studierenden also nicht ausreichend auf die rechtswissenschaftlichen Abschlussprüfungen vorzubereiten. Auch ist das rechtswissenschaftliche Studium mit Problemen der sozialen Gleichberechtigung konfrontiert [8]. Außer- dem geben 75 % der befragten Studienabbrecher:innen an, dass zum Abbruch des Studiums auch der mangelnde Praxisbezug geführt hat [9]. Ebendiesem kommt aber in der Ausbildung eine motivierende und identifikationsstiftende Wirkung zu [10]. In einem Mangel an praktischer Orientierung könnte umgekehrt ein Argument für stärkeren Praxisbezug gesehen werden. So auch eine Umfrage des DAV: „83 % aller Befragten finden auch, die Ausbildung müsste stärker auf Praxisbezug und den Austausch mit Praktiker:innen setzen.“ [11]
Der Wunsch der Studierendenschaft nach mehr Praxisbezug bereits während des universitären Studiums wird aber nicht nur durch Umfragen, sondern auch durch das Handeln der Studierenden selbst sichtbar. Neben der hohen Beliebtheit von Moot-Courts und stellenweise anzutreffenden Street Law/Know Your Rights Initiativen zeigt sich dies vor allem im Bereich der Clinical Legal Education.
Konkret hatte die bundesdeutsche Gesetzgebung im Jahr 2008 erstmals legalisiert, dass kostenlos juristische Dienstleistungen durch Nicht-Jurist:innen erbracht werden dürfen. Ausweislich der Gesetzesbegründung hatte man dabei im Sinn, Lücken in der anwaltlichen Versorgungslandschaft zu schließen, wie sie bspw. im Bereich des Migrationsrechts bestehen [12]. Rein faktisch hat man dadurch in Deutschland erstmals Rechtsberatung durch Studierende ermöglicht. Seit 2008 sind im Umfeld der juristischen Fakultäten ca. 60 sog. Law Clinics entstanden, von denen aber (und hier zeigt sich die studentische Eigeninitiative) nur eine Minderheit institutionell an eine Universität/juristische Fakultät angebunden sind [13]. In diesen Law Clinics leisten die Studierenden parallel zu ihrem regulären Studium kostenlose Rechtsberatung, es handelt sich also um ein „Service Learning“ Konzept. Während sich der ausbildungspolitische Diskurs immer wieder mit groß angelegten Reformen befasst, von denen ein Großteil scheitert [14], haben Studierende Tatsachen geschaffen und den rechtsdidaktischen Innovationsprozess vorangetrieben.
Vor diesem Hintergrund wollen wir ermitteln, wie Lehrende der Rechtswissenschaft ihr eigenes didaktisches Handeln wahrnehmen und welche Rolle praxisbezogene Lehrmethoden hierbei spielen. Grob skizziert, besteht unser Forschungsvorhaben also darin, den Wunsch der Studierendenschaft nach einem stärkeren Praxisbezug in der universitären juristischen Ausbildung mit der Perspektive der Lehrenden zu vergleichen. Hierfür sehen wir gerade in Deutschland einen großen Bedarf, denn: „Deutschland ist einer der wenigen Staaten, in denen es Hochschullehrern verwehrt ist, nebenberuflich als Rechtsanwalt tätig zu sein und auf diese Weise aus eigener Anschauung Praxisbezüge herzustellen“, so Prof. Dr. Kilian vom Kölner Soldan Institut [15].
Wir wollen mit unserer Forschung dazu beitragen, dass hochschulpolitische Überlegungen, welche sich mit der verstärkten Integration von praxisorientierten Lehrformen in die universitäre juristische Ausbildung befassen, auf einer möglichst breiten Analyse der tatsächlichen Gegebenheiten fußen. Dabei sollte nicht nur berücksichtigt werden, dass sich Studierende einen stärkeren Praxisbezug wünschen. Zu einer umfassenden Abwägung einschlägiger Reformmaßnahmen gehört auch, welche Gedanken sich Lehrende als didaktische Schlüsselfiguren hierzu machen [16].
Unsere persönliche Motivation ist dabei Folge unseres eigenen Engagements in der deutschen Bewegung der Refugee Law Clinics. Hier befassen wir uns mit der „Access to Justice“ Problematik und daher vor allem mit solchen Fällen, in denen Menschen ein fairer Zugang zum Recht verwehrt bleibt. Mittelfristig wird sich die Access to Justice Problematik noch deutlich verschärfen, wenn sich das juristische Nachwuchsproblem nicht lösen lässt: Eine überlastete Justiz entscheidet langsam und ungenau, anwaltliche Beratung als knappes Gut steigt im Preis. Daher wollen wir nun auch forschend Verantwortung übernehmen und mit dazu beitragen, dass Reformbemühungen, welche das Nachwuchsproblem der Jurist:innenschaft zu lösen versuchen, auf eine ausdifferenzierte Entscheidungsgrundlage zurück- greifen können.
Und hier die Studierendengruppe in ihren eigenen Worten:
Literatur:
- [1] „Juristen-Mangel in Deutschland: Zu wenige Richter und lange Justiz-Verfahren“
- [2] „Gigantische Pensionierungs-Welle, kaum Nachwuchs: Richter warnt vor Justiz-Kollaps“
- [3] „Justiz verliert 10.000 Richter und Staatsanwälte“
- [4] „Juristenmangel in Deutschland: Richterinnen und Anwälte dringend gesucht“
- [5] „Wie viele Jura-Studierende und -Absolventen gibt es in Deutschland?“
- [6] „DAV kämpft für Nachwuchs: Forum Update Jurist*innenausbildung“
- [7] Lueg in „Das Jurastudium – Elitär, überfordernd, reformbedürftig?“
- [8] Heublein/Hutzsch/Kracke/Schneider in Die Ursachen des Studienabbruchs in den Studiengängen des Staatsexamens Jura, 2017, S. 34.
- [9] Ebd. S. 10.
- [10] Ebd., S. 90.
- [11] „Reformbedarf - Sind Jurastudium und Examen noch zeitgemäß?“
- [12] Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechtsberatungsrechts; Drucksache 16/3655, 2006, S. 39.
- [13] Kilian/Wenzel in AnwBl 10/2017, S. 963-965.
- [14] „Was bisher nicht geschah (und warum)“
- [15] „Zukunftsherausforderungen der Rechtswissenschaft als Professionswissenschaft“, S. 705.
- [16] Helmke/Schrader in Handwörterbuch Pädagogische Psychologie, 2010, S. 277.
Studierendenprojekt: Datengetriebene Hochschuldidaktik: Praxisorientiertes Lehren und Lernen in der Rechtswissenschaft
Förderzeitraum: 01.10.2022 - 30.09.2023 (12 Monate)
Studierende: Quint Aly, Hauke Varoga & Maylie Purwita
Mentorin: Christina Schwalbe